Big Data 9. Oktober 2014 von

Die dunkle Seite der Daten

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Grafik via Internet Archive

Ob wir es wollen oder nicht, unsere Daten sind ein Rohstoff, der sich in privater Hand sammelt. Wir unterschätzen, welchen Preis wir dafür zahlen und lassen uns mit neuen Dienstleistungen, etwas Open Data und Kopien unserer Daten abspeisen. Wie lässt sich der politische Wert der Daten zurückerlangen?

Ich gehe oft zu Live-Auftritten; und ich habe etwas beobachtet, das heute völlig normal geworden ist: Menschen, die scharenweise ihre Handys und Mobilgeräte in die Höhe halten und Aufnahmen machen. Von allem, zu jeder Zeit und überall. Aber auch, wenn unsere Hände unten bleiben und wir unsere Finger still halten, geht das Aufnehmen weiter. Denn was wir bewusst aufnehmen, wird immer mehr zweitrangig.

Heute ist nicht mehr wichtig, dass wir uns aktiv entscheiden, etwas zu filmen oder zu fotografieren; dass wir entscheiden, welche Ereignisse wir für uns bewahren wollen. Die Idee, dass unser Leben eine Erzählung ist, die wir niederschreiben oder filmen können, ist überholt. Nicht wir sind es, die aufnehmen, wir sind die Aufgenommenen, wenn Daten über unser Leben erfasst werden.

In dieser Sammlung sind es gerade die aus unserer Erinnerung herausgefallenen Momente, die zählen. Es kommt nicht darauf an, was wir zu tun glauben, während wir unseren batteriebetriebenen Fuhrpark nutzen. Entscheidend ist vielmehr, was andere daraus machen – unabhängig davon, welche Absichten wir damit vielleicht verbunden haben mochten. Mit unseren Daten füttern wir ein System aus Sensoren, das zu erraten versucht, was wir wollen, was unsere persönlichsten Bedürfnisse und Wünsche, als Bürger, Aktivisten, Gruppen oder Gesellschaften sind.

Daten versprechen Information und Evidenz

Aber wer ist es, der all das sammelt? Wer hört dem Datenstrom zu? Wer will eigentlich wissen, was wir wollen, und warum? Hier kommen Daten ins Spiel, mit all den großen Verheißungen, die sie begleiten: eine neue Kultur, eine neue Frisur – usw. usf. Das eintönige Datensammeln ist anziehend und cool geworden; die einst mühevolle Datenanalyse hat sich zu einem lukrativen und mächtigen Geschäftsmodell für Geeks entwickelt; andere versprechen sich Ruhm oder sehen einen Hype.

Die große Hoffnung der Daten liegt im Versprechen von Information und Evidenz. Sie liegt darin, die Wahrheit auszusprechen: gegenüber der Macht, gegenüber den Mächten, die die Macht missbrauchen können. Nach dem Motto: Wenn jemand sich falsch verhält, wird sich ein anderer darum kümmern und die Wahrheit ans Licht bringen – und beides ergibt ein wunderbares Gleichgewicht. Doch stimmt diese Annahme?

Die simple Idee eines wünschenswerten und erwartbaren Gleichgewichts zwischen Macht und Gegenmacht basiert auf der Vorstellung, dass Fehlverhalten Spuren hinterlässt. Dass man diese Spuren aufsammeln und zu einer Geschichte verbinden kann, die die Machenschaften aufdeckt – und all das ein Happy End ergibt.

Haben Daten Einfluss darauf, ob wir uns um etwas kümmern?

Doch dieses Gleichgewicht ist ein Mythos. Was, wenn Fehlverhalten nicht unbedingt einen klaren Urheber hätte? Es scheint, als ob es einfach so geschehen könne, sich auf nahezu magische Weise manifestieren würde. Hier bin ich – Zong! – erklär mich – Ping! – reparier mich – Zapp! Hier bin ich, der Fehler, aufgetaucht aus dem Nichts, wie eine Drohne am Himmel. Zu solchen Fehlentwicklungen, bei denen keiner weiß, wo sie herkommen, gehören zum Beispiel: Armut, ungestrafte Verbrechen, die Irak-Kriege, die Krisen in der EU, Korruption und so weiter.

Der datenorientierte Ansatz schlägt dazu folgendes Vorgehen vor: Finde es – verstehe es – analysiere und visualisiere es – und zerstöre es. Aber vielleicht reicht es auch, eine Fehlentwicklung zu erklären, darzustellen und in möglichst verständlicher Form aufzuschreiben? Wäre das überzeugend? Haben also Daten Einfluss darauf, ob wir uns um irgendwas kümmern oder daraufhin handeln? Wie viele Daten müssen wir vor die Nase gesetzt bekommen, damit sie die Art, wie wir die Dinge wahrnehmen, spürbar beeinflussen? Wie lässt sich die Indifferenz bekämpfen?

Die Menschen und Organisationen, die die Probleme bereits kennen und sich mit ihnen beschäftigen, sind leider oft in den etablierten Methoden, Denksystemen, Politiken und Prozeduren der vordigitalen Zeit verhaftet. Aber diese funktionieren schlichtweg nicht: Rechtsanwälte können keine Menschenrechtsverletzungen verhindern, Wissenschaftler können keine Klimaerwärmung aufhalten, Whistleblower können keine Geheimdienste aushebeln und Aktivisten können keine Politik verändern, und wie das globale Finanzsystem funktioniert, weiß ohnehin keiner genau – egal, wie viele Daten zur Verfügung stehen.

Der Traum, wie ein Staat zu denken

Die vorhandenen Bezugssysteme der Gegenmächte – Wahrheitsfindung, Beweisführung, Ermittlung – müssen überdacht werden. Aber wie? Vielleicht kommt es nicht auf die Quantität von Daten oder auf die Qualität von Evidenz an, sondern auf die Fähigkeit, unser Wissen zu nutzen, egal wie gering es sein mag, und zwar mit einer verdammten Effizienz, die nicht nur unsere Vernunft und unseren Verstand anspricht, sondern auch die Gefühle und Überzeugungen in Frage stellt, die wir in uns tragen.

Deshalb muss der Schwerpunkt der Gegenmacht vor allem auf dem „wie“ und dem “wer“ liegen: Wie will man eine Gegenmacht bilden, wenn man nicht die Mittel dazu hat? Wer sollte das bewerkstelligen können? Wie will man eine Gegenmacht bilden, wenn man in einem Spiel steckt, bei dem der Gegner die Spielregeln in Echtzeit verändern kann? Ach ja, und der Gegner im Spiel besitzt noch einen Supercomputer, um unsere sieben Millionen nächsten Schritte zu errechnen. Daten können uns das gute Gefühl geben, am Spiel teilzunehmen, aber wir werden nie die Mittel bekommen, es zu gewinnen.

Daten sind vielleicht gar nicht so vielfältig, wie immer behauptet wird, aber sie bleiben Teil eines Traums, wie ein Staat zu denken: Im großen Maßstab denken und handeln; wenn wir nur alles einsammeln und analysieren könnten, könnten wir perfekte Entscheidungen treffen und die Dinge kontrollieren. Es könnte natürlich auch sein, dass anstelle des „Denkens wie ein Staat“ mittlerweile das „Denken wie ein Konzern“ getreten ist – oder ist das nur ein nahtloser Übergang? Hat irgendjemand etwas Verdächtiges bemerkt?

Wir übersehen die politischen Kosten

Es gibt keine Daten ohne Unternehmensstrukturen und ihre Kultur – nun gut, strenggenommen gibt es sie, aber nur in geringem Umfang. Der Großteil der Daten ist im Besitz von Unternehmen, wird von ihnen verarbeitet, vervielfältigt, verglichen und analysiert – und durchläuft eine privatwirtschaftliche Netzinfrastruktur.

Es sind Echtzeit-Daten, echte Daten, die sich ständig verändern. Unabhängig, von welcher weltanschaulichen Warte man es betrachtet, füttern wir mit unseren Daten tagtäglich eine Konzernkultur und ihre Werte und bringen anderen bei, es ebenso zu tun. Wir akzeptieren dieses Umfeld, weil wir die Dienste, die wir von ihnen in Anspruch nehmen, nicht direkt mit dem politischen Preis, den wir dafür bezahlen, in Verbindung bringen.

Dies ist nun ein sehr beeindruckendes und wirkungsvolles Modell der Kontrolle; und ein doppelt heimtückisches: Erst verfallen wir der Illusion, dass die von uns in Anspruch genommenen Dienste kein Geld kosten. Und dann glauben wir auch noch an ihre Neutralität. Oder anders ausgedrückt, wir übersehen die politischen Kosten.

Ein schlechter Deal

Das heißt, die Dienste betrügen uns nicht nur als Individuen. Die Institutionen, Regierungen, Entscheidungsträger und Aktivisten, an die wir uns vielleicht wenden, wenn wir eines Tages die Kosten bemerken, werden genauso ausgetrickst. Der politische Wert, den die Daten besitzen, akkumuliert sich bei Akteuren, deren möglicher politischer Einfluss höchst fragwürdig ist: Konzerne sind als Politikmacher etwa so gut geeignet wir Armeen als Friedensbringer. Und was ist dieser politische Wert der Daten? Vielleicht ist unsere Privatsphäre politischer als wir jemals gedacht haben.

Open Data ist ein Randbereich der Datenpolitik; es ist eine politische Schimäre, ein Platzhalter – wenn auch ein sehr netter. Die politisch wertvollsten Daten sind aber weder offen noch frei. Und sie werden es nie sein. Wir erlauben uns einen ziemlich dekadenten Tausch von hochwertigen politischen Daten über unsere kollektiven Erfahrungen und individuellen Wünsche gegen ein grandios niedriges Dienstleistungsangebot. Das ist der Deal.

Es ist möglich, darum zu bitten und sie zurückzubekommen („befreie Deine Daten“) – aber nur auf eine törichte Weise, als eine symbolische und bedeutungslose Geste – wie den Kuchen nicht haben und ihn auch nicht essen. Die Kopie unserer Daten, die wir anfordern können, ist ein Trugbild, ein Ersatz, ein Witz. Was wir eingeben, bleibt auch dort und wird ewig weiter kopiert. Die Unternehmen geben nichts weg. Die Vorstellung, etwas zu löschen, ist ein Selbstbetrug, keine wirkliche Handlung. Es ist, wie wenn man glaubt, unsichtbar zu werden, indem man die Augen verschließt.

Daten sind nicht das neue Öl

Die Mehrzahl der Daten wird natürlich nie offen sein, aber selbst wenn, wer könnte in der Lage sein, sie zu verarbeiten? Wer hat die Ressourcen dafür? Wer würde es organisieren? Wer würde für die Stromrechnung aufkommen, die Datenfarmen aufbauen und die Gehälter für die Geeks bezahlen? Hier kommen wir nicht voran. Würden Politiker und Entscheidungsträger irgendetwas dagegen unternehmen? Nein, denn es ist ein Riesengeschäft, das Geld sprudeln lässt und Arbeit verschafft – insbesondere jungen, cleveren und brillanten Leuten.

Wäre es aber möglich, ein System zu erfinden oder wiederzuerfinden, das uns den politischen Wert unserer Daten zurückgibt? Sollen wir zulassen, dass sie in den Händen von großen Konzernen und verwirrten Politikern bleiben? Sind wir überhaupt in der Position zu verhandeln, und falls nein, wie kommen wir in sie? Was ist und wer kontrolliert Unternehmensverantwortung im Zeitalter der Datenpolitik?

Daten sind weder das neue Öl noch Beweisstücke noch Allzweckwerkzeuge; vielleicht manchmal alles davon, aber nur ein wenig. Die Verrenkungen, denen wir uns in diesem Geflecht neuer Kräfte im Zusammenhang mit den Daten unterzogen haben, sind enorm. Was zutiefst politisch ist – unser wirtschaftliches Leben, unser Privatleben, unsere Bewegungen, Freunde, Familie – wird als unpolitisch hingestellt: als Rohstoff für phantastische und innovative Dienstleistungen. Unsere Vorstellungen, was ethisch und fair ist, werden ausgehöhlt. Diejenigen, die sich tatsächlich damit befassen und entsprechend handeln wollen, stecken entweder noch in der prädigitalen Zeit oder sie bekommen die dünne Soße der Open Data vorgesetzt. Es ist der Mechanical Turk des politischen Handelns.

Gleichzeitig machen viele weiter, als ob wir in der letzten Zeit nichts gelernt hätten. Als ob Snowden nicht in Moskau festsäße und seinen russischen Dissidentenbart wachsen lässt; als ob Assange nicht seit zwei Jahren in einer Londoner Botschaft herumgeisterte. Stattdessen sitzen wir friedlich in unseren Labs und bauen neue Tools und Plattformen, organisieren Festivals voller schöner Irritationen, reden von Offenheit und hacken, was gehackt werden kann. Ja, nichts ist passiert, und nichts wird passieren. Keine Sorge.

Zuerst erschienen bei Visualizing Advocacy, deutsche Übersetzung von Andreas Kallfelz (CC BY-SA).

Avatar Marek Tuszynski

Marek Tuszynski ist Mitgründer und Programm- und Technologieleiter des Tactical Technology Collective. Er gehört zu Gründern der Second Hand Bank und des International Contemporary Art Network. Foto: Eric Hersman, CC BY

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