Big Data 25. September 2014 von

Smarte Stadt, gefährliche Stadt

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Foto via Internet Archive

Mit dem Durchbruch von Big Data und dem Internet der Dinge kündigt sich auch die Vermessung und Steuerung des öffentlichen Raums an. Die Digitalisierung der Städte schafft nicht nur Planbarkeit und Effizienz, sondern auch neue Kontroll– und Überwachungsinstrumente. Um eine subtile Manipulation der Gesellschaft zu verhindern, müssten aber die Bürger die Stadt kontrollieren, nicht umgekehrt.

Die Smart City passiert längst: Moderne Städte sind an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen. Da ihre äußere Struktur kaum mehr verändert werden kann, setzt das Konzept der Smart City darauf, ihre inneren Abläufe zu optimieren. Doch die sind so komplex, dass sie kaum mit traditionellen Mitteln beherrschbar sind. Deutlich wird das am innerstädtischen Verkehr: Statt neue Straßen oder Strecken für den öffentlichen Nahverkehr zu bauen, installieren Städte Verkehrsleitsysteme.

Diese sehen den Verkehr als ein komplexes System aus Verkehrsteilnehmern und Verkehrsinfrastruktur, die zusammen einen Fluss von Menschen und Gütern darstellen. Die Steuerung erfolgt systematisch, zum Beispiel durch die Anpassung von Ampeltschaltzeiten an den U-Bahn-Takt. Somit wird Effizienz indirekt hergestellt: Man kontrolliert nicht jeden einzelnen Verkehrsteilnehmer, sondern die Regeln, nach denen alle spielen müssen. Trotzdem müssen dazu zunächst alle einzelnen Akteure, also Bürger, Verkehrsteilnehmer, Unternehmen und andere überwacht werden.

Nach dem Verkehr sollen in der Smart City nun möglichst viele Bereiche des öffentlichen Lebens geregelt werden: Wie sich Menschen bewegen, Energie nutzen, miteinander interagieren. Die Hoffnung ist, dass Städte auf diese Weise in Echtzeit steuerbar werden, die Effizienz des Systems und damit das Wohlbefinden der Bewohner langfristig steigt. Das Mittel: Alle relevanten Vorgänge werden überwacht, die so erhobenen Daten zusammengeführt, analysiert und schließlich Stellschrauben identifiziert, an denen gemäß der jeweiligen politischen Maßgaben gedreht werden kann. Doch jeder dieser Schritte stellt zugleich ein Risiko für die Rechte und Souveränität der Stadtbewohner dar.

Die Stadt wird zur Datensammlung

Die Mittel, um die Stadt durchgängig als System zu analysieren, entstanden erst in den letzten Jahren: Mit Big Data und dem, was unter Internet der Dinge firmiert. Die Welt wird mit Sensoren ausgerüstet, nun fallen Datenberge an, die nur mit neuen Methoden auf Regelmäßigkeiten und Störungen abgeklopft werden können. Die Weltsicht dahinter ist älter: Im Blick der Kybernetik besteht sie aus Systemen, in die man – ein umfassendes Wissen vorausgesetzt – eingreifen kann, um gewünschte Veränderungen herbeizuführen. Als „smart“ gilt die Stadt, weil sie durch Feedback-Schleifen lernen soll, sich selbst zu regulieren und an neue Zustände anzupassen.

Solche Verbindungen von Datensammlung und Steuerung können heute nur in kleinen Zusammenhängen beobachtet werden: Fabriken optimieren Materialströme, Toleranzen und Maschinenausfallzeiten, Logistikunternehmen richten ihre Autoflotten auf wiederkehrende Belastungswellen aus, Versandhäuser sagen Kundenwünsche voraus, Krankenkassen prognostizieren Epidemien. Der nächste Schritt wird erheblich schwieriger: Die Einbettung des Wissens über die jeweiligen Teilsysteme in größere Zusammenhänge, zum Beispiel eine Gesellschaft. Die mit Big Data verbundene Vision ist, nicht nur Wissen zu schöpfen, sondern auch in das Gesellschaftssystem selbst einzugreifen und es neu zu ordnen.

Damit eine Stadt eine Smart City wird, muss sie erst einmal vermessen werden: Potenziell alles, was sich bewegt und verändert, muss erfasst werden. Autos werden getrackt, Personen im Nahverkehr erfasst, Daten über die Wasser– und Energienutzung, über Kommunikationsverhalten, Gesundheit und viele andere soziale Tatsachen gesammelt; von Krankheitsfällen über Heiraten bis zu Scheidungen. Die Stadt wird zum Sensorennetzwerk. Die aufgezeichneten, aggregierten, statistisch und netzwerktheoretisch aufgearbeiteten Daten fließen in komplexe Simulationsmodelle ein: Der Verkehr wird zu einem an– und abschwellenden Strom, unsere individuelle Lebensführung wird zu Gruppenmodellen aggregiert. Die Technik integriert die vielen Untersysteme einer Stadt, ihre Bewohner und Infrastrukturen in ein Gesamtmodell.

Überwachen, um zu optimieren

Aus all dem entsteht ein abstraktes Bild der Stadt als Sammlung von Ordnungsprinzipien und Zusammenhängen: Wenn es regnet, sind weniger Fußgänger und Radfahrer auf der Straße, was die Verkehrsbelastung durch Autos steigert. Lang- und kurzfristig wirksame Regeln beschreiben das Stadtleben wie in einem Computerspiel.

Kritisch wird es, wenn dieses Wissen zur Steuerung verwendet werden soll. Beim Verkehr passiert das längst: Dort regulieren komplexe Ampelschaltungen die Auto– und Menschenströme. Längst wird aber auch die soziale Integration einer Stadt als Aufgabe für Netzwerktheorie und Big Data betrachtet. Entwickelt sich ein Stadtteil zum Armenviertel, wird dies als Kommunikationsproblem betrachtet: Das Viertel ist vom Zugang zu den ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Stadt abgeschnitten und bildet ein abgeschottetes Subnetz. Werden die Verbindungen wiederhergestellt, etwa durch günstigen Nahverkehr und andere Mobilitätsanreize, wird die Lücke geschlossen und es kann wieder prosperieren.

Das mag schön klingen, doch auch hier müssen nicht nur die Infrastruktur, sondern die Bürger und ihre Sozialstrukturen als System erfasst werden. Dieser mit der „Smart City“ verbundene Ansatz steht Bottom-up-Modellen von Stadtentwicklung und Partizipation entgegen, nach der sich Bürger in der Öffentlichkeit organisieren und daraus eine Zivilgesellschaft erwächst. Im Grunde geht es um eine Machtumkehr: Wer das Steuersystem beherrscht, beherrscht das Individuum. Eine wirklich smarte City ist deshalb auch ein Überwachungsalbtraum.

Von der Steuerung zur Manipulation

Die Bürger werden in diesem kybernetischen Blick zur formbaren, steuerbaren Masse. Ihre Bedürfnisse und ihr Handeln werden nicht mehr als individuelle Lebensführung begriffen, sondern als Fehler oder Subversion der Optimierungsprinzipien. Die Reaktion sind subtile Eingriffe in die Gesellschaft, wenn etwa durch die Anpassung von Ampelschaltzeiten und Brötchenpreisen sozialer Unmut gedämpft werden kann, oder indem Wohnungen so vergeben werden, dass homogene Ballungen verhindert werden. Mit „Pre-Crime“-Methoden sollen Aufstände oder Verbrechen vorhergesagt und subtil unterdrückt werden – vorsorglich. Das ist keine Science-Fiction: Es ist bekannt, dass Geheimdienste die sozialen Netzwerke ihrer überwachten Personen rekonstruieren und Städte mithilfe der Funkzellenüberwachung etwa Demonstrationsteilnehmer und ihre Rädelsführer identifizieren.


IBM-Werbevideo: „Integrierte Erkenntnis für intelligentere Abläufe“

Aber Big Data ermöglicht Eingriffe auf einer noch höheren Ebene: Schon jetzt untersuchen Städte und Staaten mit Sentiment-Analysen anhand von Äußerungen in sozialen Netzwerken und Medien die Stimmung der Bevölkerung. IBM etwa bietet im Rahmen seines „Intelligent Operations Center“ ein System unter dem Titel „Verwalte die Stimmung Deiner Stadt“ an. Führungspersonen sollten sich nicht auf die lokalen Nachrichten verlassen, um ein Stimmungsbild ihrer Bevölkerung zu erhalten, sondern auf Big Data setzen, wirbt das Unternehmen. Mit diesem Wissen lässt sich in einem weiteren Schritt die öffentliche Meinung punktgenau beeinflussen – zumindest in der Theorie. Das geschieht nicht, indem individuelle Meinungen geformt werden, sondern die Umstände, die zur Entwicklung einer missliebigen Meinung führen.

Neue Kontrollinstanzen gefragt

Das Risiko ist, dass diese Eingriffe schwer nachzuvollziehen sind und kaum individuell spürbar werden. Gruppen werden geformt, nicht Menschen. Was bedeutet das für das Selbstbestimmungsrecht der Stadtbewohner? Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Steuerung und unterdrückerischer Manipulation? Je stärker die Städte heute Daten sammeln, aggregieren und zur Steuerung nutzen, desto wichtiger werden neue demokratische Kontrollinstanzen, um diese Grenzen zu ziehen. Grundlage dafür ist aber ein gesellschaftliches Verständnis dieser Prozesse. Erst mit diesem noch zu schaffenden Verständnis kann eine ethische Diskussion entstehen, in der zwischen Optimierung und Entfaltung abgewogen werden kann.

Das alles läuft darauf hinaus, dass die „Selbstorganisation“ der Smart City kein technischer Vorgang ist, der von einer Machtelite ausgeübt wird, sondern durch Transparenz und Mitspracherechte demokratisiert werden müsste. „Smart“ dürfte eine Stadt erst dann werden, wenn es Bürger gibt, die smart genug sind, diese smartness zu verstehen. Vielleicht ist es noch zu früh für wirklich smarte Städte.

Solche Grenzen zwischen Manipulation und Kontrolle müssen in der datenbasierten Stadt – und letztlich der Gesellschaft – an vielen Punkten gefunden und verhandelt werden:

  • Diskursmacht: Wer das Kontrollsystem beherrscht, beherrscht den Diskurs. Wer kontrolliert das Kontrollsystem?
  • Medienmacht: Nicht mehr konkrete Medieninhalte müssten manipuliert werden, sondern deren Verbreitungswege, Reihenfolgen oder Gewichtungen. Wer darf wann daran schrauben?
  • Machtansammlung und Datensouveränität: Die Verwaltung hat mehr Wissen über Personen und ihre Umfelder als die Personen selbst. Wer soll was wissen dürfen?
  • Demokratie: Wer legt die Steuerziele fest und wie können sie überarbeitet werden?
  • Verselbständigung und Chaos: Komplexe Systeme sind schwer beherrschbar. Wie wird ihre Robustheit gesichert – und wie kann nachjustiert werden?
  • Ereignishorizont: Mit Big Data verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf kurzfristige Prozesse. Wer sorgt für langfristige Perspektiven?
  • Sabotage: Ein kybernetisches System ist anfällig für Manipulation. Ein Verkehrsleitsystem und der Stadtverkehr kann durch einen Anschlag auf die Stromversorgung lahmgelegt werden. Störsender und Fake-Daten könnten das System aus dem Tritt bringen. Wie reagiert es darauf und darf systemgefährdendes Verhalten sanktioniert werden?
  • Spionage: Das Wissen über eine Stadt könnte geklaut werden. Wie soll es geschützt werden – bei gleichzeitiger Transparenz?

Die Stadt bleibt chaotisch

Doch auch wenn sich diese Visionen mit Big Data und der Smart City verbinden, ist derzeit noch völlig unklar, ob die langfristigen Vorhersage- und Steuerungswünsche überhaupt aufgehen werden: Das Wissen um die Techniken, über die Grenzen ihrer Wirksamkeit, über ihre Anfälligkeiten und Missbrauchspotenziale sind weitgehend ungewiss. Komplexe Systeme verhalten sich chaotisch, kleine Einwirkungen können unvorhersehbare Auswirkungen haben.

Ein weiteres Problem ist, dass die einzelnen Datenpartikel wenig Aussagekraft haben und erheblich fehleranfälliger sind als ihre Aggregate. Die vermeintliche Präzision der aggregierten Daten könnte die Tendenz befördern, von Gruppeneigenschaften auf individuelle zu schließen – und damit immer neue Fehlschlüsse produzieren. Geoscoring bei der Kreditvergabe oder die Experimente mit Pre-Crime-Verfahren demonstrieren nur, was in vielen Bereichen möglich werden soll. Berauscht von den kurzfristigen Steuerungsmöglichkeiten könnte auch die langfristige Stabilität aus dem Blick geraten. Statt zu einem Ort der Entfaltung würde die Öffentlichkeit noch stärker zu einem Ort von Überwachung und Kontrolle werden.

Siemens-Werbevideo: „Der Bedarf nach Sicherheit wird zukünftig eine noch größere Rolle spielen“

Diese Entwicklung könnte eine neue Moral befördern, in der die Umgehung der maschinellen Kontrolle einer Sabotage gleichkommt. Schon wer sich ineffizient bewegt, könnte das Sensornetzwerk irritieren. Privatsphäre wäre dann nicht mehr der Schutz vor der Gesellschaft, sondern vor ihren Steuerungsinstrumenten. Diese Sicherheit wäre freilich trügerisch, denn öffentliches und privates Leben sind bereits verschmolzen.

Wichtiger als Schutz vor dieser Entwicklung zu suchen ist es, das Problembewusstsein zu stärken und Reaktionsmöglichkeiten zu entwickeln. Noch spannender als die Smart Citys und kybernetischen Gesellschaften wird es sein, welche neuen Taktiken ihre Bürger entwickeln werden, um deren Steuerungsversuche zu unterlaufen. Am Ende könnte sich herausstellen, dass die Bürger einer Stadt smarter sind, als sie es je sein wird.

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